Auf die Sabbatschändung, der Arbeit am Sabbat, stand nach den mosaischen Gesetzen der Tod. Dazu gibt es im Alten Testament (Lutherbibel 2017, 4. Mose 15, 32–36), folgende Erzählung:
Als nun die Israeliten in der Wüste waren, fanden sie einen Mann, der Holz auflas am Sabbattag. Und die ihn dabei gefunden hatten, wie er Holz auflas, brachten ihn zu Mose und Aaron (älterer Bruder Mose, der Verfasser) und vor die ganze Gemeinde. Und sie legten ihn gefangen, denn es war nicht klar bestimmt, was man mit ihm tun sollte. Der HERR aber sprach zu Mose: Der Mann soll des Todes sterben; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen draußen vor dem Lager. Da führte die ganze Gemeinde ihn hinaus vor das Lager und steinigte ihn, sodass er starb, wie der HERR dem Mose geboten hatte.
Das dazugehörige Gesetz (Elberfelder Bibel, 2. Mose 35, 2):
Sechs Tage soll man (seine) Arbeit verrichten, aber am siebten Tag ist Sabbat, (ein Tag) völliger Ruhe, heilig dem HERRN. Jeder, der am Tag des Sabbats eine Arbeit verrichtet, muss getötet werden.
Die Strafe ist mehr als nur unverhältnismäßig hoch, sie ist nicht nur aus heutiger Sicht maximal inhuman, auch wenn man bedenkt, dass der heilige Sabbat bereits damals eine enorm hohe Bedeutung für die Juden hatte. Das Konzept eines freien Tages in der Woche sollte den Menschen zugutekommen, aber dass jemand, der dieses Gebot bricht und damit freiwillig auf den Vorteil verzichtet, hingerichtet werden muss, lässt den Betrachter fassungslos zurück.
Wir gehen in der Zeit einen Schritt nach vorne. Das sogenannte Kindheitsevangelium nach Thomas (das nicht in den Bibelkanon aufgenommen wurde) berichtet vom fünfjährigen Jesus Christus:
Als dieser Knabe Jesus fünf Jahre alt geworden war, spielte er an einer Furt eines Baches; das vorbeifließende Wasser leitete er in Gruben zusammen und machte es sofort rein; mit dem bloßen Worte gebot er ihm. Er bereitete sich weichen Lehm und bildete daraus zwölf Sperlinge. Es war Sabbat, als er dies tat. Auch viele andere Kinder spielten mit ihm. Als nun ein Jude sah, was Jesus am Sabbat beim Spielen tat, ging er sogleich weg und meldete dessen Vater Joseph: „Sieh, dein Knabe ist am Bach, er hat Lehm genommen und zwölf Vögel gebildet und hat den Sabbat entweiht.“ Als nun Joseph an den Ort gekommen war und (es) gesehen hatte, da herrschte er ihn an: „Weshalb tust du am Sabbat, was man nicht tun darf?“ Jesus aber klatschte in die Hände und schrie den Sperlingen zu: „Fort mit euch!“ Die Sperlinge öffneten ihre Flügel und flogen mit Geschrei davon. Als die Juden das sahen, staunten sie, gingen weg und erzählten ihren Ältesten, was sie Jesus hatten tun sehen.
Hier werden viele nun einhaken und sagen, dass das Modellieren von Lehmvögeln eines Kindes nicht als Arbeit betrachtet werden kann. Aber das Sabbat-Gesetz wird so verstanden, dass auch Freizeitaktivitäten, darunter im Übrigen auch Sport, absolut tabu sind. Der in der Erzählung zitierte Jude sieht es als Entweihung des Sabbats, Vater Joseph spricht von etwas, das man nicht tun dürfe. In der damaligen Zeit hat man durchaus drakonische Strafen auch an Kindern angewendet. Für widerspenstige Söhne etwa ist die Steinigung vorgesehen (Lutherbibel 1984, 5. Mose 21, 18–21).
Hätte Jesus also schon im Kindesalter die Todesstrafe verdient gehabt? Hier aber rettet sich Jesus mit einem angeblichen Wunder. Als die Vögel wegflogen, dachte sicherlich niemand mehr an eine sehr harte Strafe, da man wohl ein göttliches Zeichen sah. Zwar mag es damals üblich gewesen sein, dass die Kinder im Lehm spielten, aber ich sehe da auch eine Anspielung auf das Material, aus dem Gott den ersten Menschen, Adam, erschaffen haben soll: eben Lehm. Die Botschaft: Auch Jesus kann aus Lehm Leben erschaffen, so gesehen eine Anspielung, dass er das kann, was auch Gott kann, bzw. dass er Gott ist.
Als Naturalist sehe ich die Bibel äußerst kritisch. Die beschriebenen Wunder kann es nicht gegeben haben, da sie wie alle Wunder (im strengen, also transzendentalem Wortsinn1) den Naturgesetzen widersprechen. Die Wissenschaft hat solche Verstöße gegen Naturgesetze nie festgestellt. Ich denke, es sind einfach Erzählungen, Metaphern. Wie viele der Erzählungen der Bibel wartet auch diese Geschichte aus dem Kindheitsevangelium mit einer überraschenden Pointe auf.
Nun stellt sich die Frage, ob das Sabbatschändungs-Gebot heute noch für Christen gilt: Jesus sagte in der Bergpredigt (Lutherbibel 2017, Matthäus 5, 17–206):
Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich. Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.
Somit gälten die alten Gesetze des Alten Testaments auch für Christen. Viele Christen sind aber der Meinung, dass Jesus viele oder nahezu alle der alten Gesetze aufgehoben habe, da er betont hätte, es ginge ihm sinngemäß um den Geist der Gesetze, nicht um die wortgetreue Erfüllung. Das zeigt aber das Problem auf, dass die Bibel widersprüchlich ist und selbst eindeutige Passagen durch andere Passagen infrage gestellt werden können. Letztlich lässt sich mit viel Interpretation sowohl das eine als auch das Gegenteilige herauslesen.
Aber die alten Gesetze werden ohnehin durch weltliche Gesetze überlagert, zum Glück!
Wer heute in Deutschland gegen die Sonntagsruhe verstößt, indem er ohne Sondergenehmigung seinen Laden aufsperrt, wird nicht demnach nicht mehr so hart bestraft. Er muss mit bis zu 2.500 Euro Bußgeld rechnen. Aber er darf leben.
1 Im Umgangssprachlichen bezeichnet „Wunder“ auch einen sehr erstaunlichen Vorgang, der aber nichts Übernatürliches darstellt. Etwa: Es ist ein Wunder, dass er die Klasse doch noch geschafft hat.
Bei der Frage, ob es Wunderheilungen gebe, führen Skeptiker häufig die äußerst geringe Anzahl an Heilungen an, bei denen Mediziner keine überzeugende Erklärung haben. Obwohl jedes Jahr vier bis sechs Millionen Menschen Lourdes besuchen, hat die römisch-katholische Kirche bei diesem Ort gerade einmal 70 – vermeintliche – Wunderheilungen anerkannt. Das heißt, dass man sich bei einer solch katastrophalen Quote die Fahrt nach Lourdes getrost sparen kann. Sollte Gott – unter der Annahme, es gäbe ihn – nicht ein Interesse habe, öfter in Erscheinung zu treten, um Leute zum Glauben zu bringen?
Selbst wenn sich unter Heilungen tatsächlich Wunder(heilungen) zu finden wären, bedeutet das übrigens nicht, dass ein Gott dahinterstünde, es wäre allenfalls ein allgemeiner Hinweis auf die Existenz von etwas Übernatürlichem. Man sehe sich dazu den Wikipedia-Eintrag von Wunder an, der den Begriff nicht zwangsläufig mit Gott in Verbindung bringt.
Ein weiterer Aspekt vermeintlicher Wunderheilungen ist, dass es nur zum jetzigen Zeitpunkt keine überzeugende medizinische Erklärung gibt. Heute rätselhafte Heilungen könnte man in Zukunft vermutlich erklären. Wir wissen z.B., dass Tumoren in seltenen Fällen schrumpfen und wieder ohne verschwinden können. Man versteht hier noch nicht alle Mechanismen, dennoch spricht alles für eine medizinische Ursache solcher spontanen Remissionen. Die Lücken im Verständnis werden immer kleiner, sodass es wenig Sinn ergibt, bestehende Lücken mit Gott oder etwas Übernatürlichen zu füllen, da sich der sogenannte Lückenbüßer-Gott nicht bewährt hat.
Spektakuläre Heilungen, etwa bei Amputationen?
Ein vielleicht noch besseres Argument gegen Wunderheilungen ist, dass über extrem spektakuläre Heilungen nichts bekannt ist. Alles scheint mindestens noch im Grenzbereich des medizinisch Erklärbaren zu liegen. Richtig überzeugend wäre, wenn bei einem Patienten ein amputiertes Bein nachwachsen würde, denn über diese Fähigkeit verfügt der menschliche Organismus nicht. Noch weit beeindruckender wäre es, wenn amputierte Gliedmaßen plötzlich – schwupp – wieder da wären. Immerhin soll Gott den Menschen laut Bibel aus Lehm erschaffen haben, sodass er in der Lage sein sollte, auch ein Bein wieder spontan entstehen zu lassen.
Bisher ging ich davon aus, dass keine vermeintlichen Wunderheilungen dieser Kategorie bekannt seien, wodurch das Argument in Frageform „Warum heilt Gott keine Amputierten?“ der vielleicht überzeugendste Hinweis gegen Wunderheilungen wäre (auf der Website Why won’t God heal amputees? wird diese Frage gar zur wichtigsten Frage erklärt, die man über Gott stellen kann). Dabei wäre es für Gott die beste Werbung. Er könnte mit solchen Heilungen viele Ungläubige und Zweifler beeindrucken.
Doch zu meiner Verblüffung teilte mir der Christ und YouTuber Heinrich mit, dass ich im Irrtum läge und zumindest ein Fall eine geheilten Amputierten dokumentiert sei. Den Fall wollen wir uns einmal näher anschauen.
Il Miracolo – Das Wunder aller Wunder?
Das vermeintliche Wunder soll sich im spanischen Calanda zugetragen haben. Der 20-jährige Miguel Juan Pellicer hatte 1637 einen schweren Unfall. Er war mit einem Ochsenwagen unterwegs und offenbar eingeschlafen. Er fiel vom Wagen und sein rechtes Bein wurde vom Wagenrad überrollt, wodurch sein Schienbeinknochen zerdrückt wurde. Er kam in das Spital in Valencia, in dem man ihm aber kaum helfen konnte. Pellicer bat um eine Verlegung in das „Königliche Spital Unserer Gnadenreichen Frau“ in Saragossa, von dem er glaubte, dass man ihn dort erfolgreich behandeln könnte. Anfang Oktober 1637 erreichte er nach 50 Tagen Reise vollkommen erschöpft und mit hohem Fieber das Spital. Zunächst beichtete er und empfing die heilige Kommunion. Die Ärzte stellten fortgeschrittene Gewebsnekrose im Bein fest, sodass eine sofortige Amputation notwendig wurde. Die Amputation wurde auf der Höhe von vier Fingern unterhalb des Knies durchgeführt.
Die an der Amputation beteiligten Ärzte Juan de Estanga und Diego Millarue sowie der Praktikant Miguel Beltran sollen später unter Eid ausgesagt haben, dass das Bein tatsächlich amputiert worden sei.
Das amputierte Bein übergaben sie Juan Lorenzo Garcia, einem jungen Praktikanten, der bei der Operation assistiert hatte. Zusammen mit einem Kollegen soll dieser dann das Bein in einem 21 cm langen Loch auf dem Friedhof vergraben haben.
Im Frühjahr 1638 wurde Pellicer mit einer Holzprothese und Krücken aus dem Spital entlassen. Unfähig, einer Arbeit nachzugehen, verdingte er sich fortan als Bettler am Eingang der Basílica del Pilar in Saragossa. Anfang März 1640 ging Pellicer zurück nach Calanda zu seinen Eltern. Er stellte seinen Beinstumpf zur Schau und sammelte Almosen in den umgrenzenden Dörfern.
Am 29. März 1640 ging Pellicer nicht zum Almosensammeln. Spät abends soll dann die Mutter nach ihrem Sohn geschaut haben. Dabei will sie ihn schlafend mit zwei gesunden Beinen vorgefunden haben. Sie rief ihren Mann hinzu. Die beiden haben dann Pellicer geweckt und sagten ihm, dass sein Bein nachgewachsen sei. Pellicer, der verständlicherweise sein Glück kaum fassen konnte, will geträumt haben, dass er seinen Beinstumpf mit dem Öl aus der Lampe in der Heiligen Kapelle der Muttergottes aus Pilar eingerieben hätte. Für ihn war klar, dass Jesus Christus dieses Wunder bewirkt hat.
Auf dem wiederhergestellten Bein soll die Narbe vom beim Unfall erlittenen Schienbeinbruch sichtbar gewesen sein. Bei einer Überprüfung habe man auf dem Friedhof keine Spuren mehr von seinem Bein finden können.
Im Mai 1640 haben die staatlichen Behörden Saragossas einen Prozess anberaumt, um die Umstände des Wunders zu untersuchen. 24 Zeugen – darunter Ärzte, Pfleger und Angehörige – wurden gehört. Am 27. April 1641 wurde ein Dekret erlassen, dass die Wiedererlangung des amputierten Beines durch Eingreifen Gottes erfolgt sei.
Alternative Erklärung
Der Autor Brian Dunning (* 1965) hat zunächst Zweifel an dem Teil der Geschichte, bevor die Amputation durchgeführt worden sein soll. Denn Pellicer hätte bei Wundbrand eine Sepsis entwickeln müssen und wäre höchstwahrscheinlich nach wenigen Stunden daran gestorben. Mit Gewebsnekrose hätte er nicht 55 Tage überleben können. Dass das Beingewebe tatsächlich abgestorben war, daran gibt es anhand der medizinischer Protokolle, die die Verletzung als „phlegmonös“ und „gangränös“ beschreiben, was offen und feucht und „schwarz“ bedeutet, kaum Zweifel.
Auch gibt es keine Dokumente oder Zeugenaussagen, die bestätigen, dass sein Bein jemals verloren war. Dunning präsentiert eine alternative Erklärung, nach der Pellicers Bein während der fünf Tage im Spital keine Gewebsnekrose entwickelt hätte. Stattdessen hätte er die nächsten 50 Tage mit der Genesung verbracht, während dieser er nicht arbeiten konnte, und begann zu betteln. Er entdeckte, dass ein gebrochenes Bein ein Segen war. Nachdem sein Bein verheilt war kam Pellicer zu der Erkenntnis, wenn sich mit einem gebrochenes Bein beim Betteln gute Einnahmen erzielen lassen, dass ein fehlendes Bein noch mehr Erfolg bringen müsste. Auf der Reise nach Saragossa band er sein rechtes Vorderbein hinter seinem Oberschenkel zusammen und nahm zwei Jahre lang die Rolle eines amputierten Bettlers ein. Pellicer soll das Bein ja genau unterhalb des Knies amputiert worden sein. Das passt hierzu sehr gut, denn das Knie eines zusammengebundenen Beines kann auf den ersten Blick wir ein Amputationsstumpf wirken.
Später, als er wieder zu Hause in Calanda war und gezwungen war, in einem anderen Bett zu schlafen, wurde seine List entdeckt. Die Geschichte des Wunders war dann ein Weg, sein Gesicht zu wahren.
Bei den Zeugenaussagen sieht Dunning auch große Ungereimtheiten. Zwei der von Pellicero genannten Ärzte (Estanga und Millaruelo) seien zwar im Verfahren befragt worden. Keiner von beiden hätte jedoch angegeben, dass sie an der Amputation seines Beins beteiligt gewesen seien.
Dunning kommt zu dem Schluss, dass die offiziellen Beweise unzureichend für die wundersame Wiedererlangung des Beines seien.
Die sehr wahrscheinliche Erklärung ist nach dem Prinzip von Ockhams Rasiermesser der erwähnte Bettler-Amputationstrick. Denn dieser stellt die einfachste Erklärung dar, die allen anderen Thesen vorzuziehen ist.
Resümee
Die Tatsache, dass offenbar nur ein einziges solches vermeintliches Wunder dokumentiert ist, sollte nachdenklich machen. Es ergibt wenig Sinn, dass Gott – unter der Annahme, es gäbe ihn – nur ein einziges Mal eine Amputation heilt. Zudem macht der geringe Bekanntheitsgrad des angeblichen Wunders nachdenklich, obwohl es spektakulär erscheint. Obwohl hier sogar alles angeblich so gut dokumentiert und notariell beglaubigt ist, findet sich im Netz wenig darüber.
Laut ChatGPT hat der Vatikan das Wunder anerkannt.
Ja, der Vatikan hat das Wunder der Amputationsheilung von Miguel Juan Pellicer anerkannt.
Bestätigende Berichte hierzu habe ich bislang aber keine gesehen, nur Andeutungen. Ich werde mal den Vatikan anschreiben, um ganz sicherzugehen.
Überzeugend wäre es, wenn es in der heutigen Zeit Berichte über solche Heilungen gäbe. Würden Amputierte in unserer Zeit von wiedererlangten Gliedmaßen berichten, könnten diese Fälle anhand von Bildmaterial und ärztlichen Unterlagen hervorragend untersucht werden. Wären es gar prominente Menschen, die keine Zwillingsgeschwister haben und stolz ihr „neues“ Bein präsentieren, könnte sich jeder selbst von dem Wunder überzeugen. Ein Betrug würde schnell auffliegen, da unzählige Skeptiker alles genau überprüfen würden.
Nun aber gibt es keine Berichte über solche Heilungen aus der Jetzt-Zeit. So darf man immer noch fragen: Warum heilt Gott (heute) keine Amputationen?
Wenn wir irgendwann nicht mehr sind, dann lassen sich die meisten von uns verbrennen oder ihren Körper per Erdbestattung unter die Erde bringen. Die Asche kommt dann in ein Urnengrab oder wird verstreut, z.B. auf dem Meer oder auf einer dafür vorgesehen Wiese. Auch wenn man seinen posthumen Aufenthaltsort höchstwahrscheinlich selbst nicht mehr mitkriegt, können sich wohl die wenigsten vorstellen, dass ihre sterblichen Überreste in Gestalt der Gebeine oder gar eines einbalsamierten Leichnams öffentlich ausgestellt werden. In Deutschland und den meisten Ländern wäre das nach heutiger Gesetzeslage ohnehin nicht erlaubt.
Bei der christlichen Kirche hat die Aufbewahrung von sterblichen Überresten und die dazugehörige Zurschaustellung jedoch eine lange Tradition. Wenn es sich um die kompletten Gebeine oder einen einbalsamierten Körper handelt, spricht man von Ganzkörperreliquien. Häufig wurden auch nur der Schädel oder auch nur einzelne mumifizierte Organe für die Nachwelt erhalten. Das ist nicht etwa ein finsterer Brauch des Mittelalters. So wurde das Herz des 2005 verstorbenen Papstes Johannes Paul II. ebenso zur Reliquie und wanderte in eine Urne, die in der Kapelle der Polnischen Kardinalskollegium in der Basilika St. Peter im Vatikan aufbewahrt wird. Man spricht hier von „getrennter Bestattung“. Für die Öffentlichkeit ist die Urne aber nicht zugänglich. Nach dem Tod des Papstes gab es einen Streit, so hatte Polen Anspruch auf das Herz reklamiert.
Körperreliquienkulte sind nicht nur im Christentum verbreitet. Buddha etwa wurde eingeäschert. Asche, Knochen und Zähne wanderten separat an verschiedene Dynastien Nordindiens, wurden aber nicht ausgestellt, sondern in Hügelgräbern bestattet (Teilbestattung). Ein Zahn von Buddha wird in einem Tempel aufbewahrt. Das Schmuckkästchen mit der Zahnreliquie ist ausgestellt aber den Inhalt darf niemand sehen.
Nicht immer ist diese Praxis religiös motiviert. Auch der einbalsamierte Leichnam Lenins wurde für die Nachwelt erhalten.
Ein besonders aktuelles Beispiel sind Dr. Gunther von Hagens’ Körperwelten zu nennen, bei der menschliche Körper als plastinierte Exponate auf Wanderausstellungen zu sehen sind. Hierbei handelt es sich aber nicht um Personenkult, sondern es steht im Vordergrund, Laien Einblick in die menschliche Anatomie zu ermöglichen, wenngleich auch immer wieder der Vorwurf von Effekthascherei erhoben wird.
Persönlicher Hintergrund
Meine Mutter trägt den seltenen Namen „Mechtildis“. In genau dieser Schreibweise. Der evangelische Seelsorger Hartmut Th. im Seniorenheim, in dem meine Mutter untergebracht ist, gab mir einen guten Tipp, ich sollte doch mal nach Dießen am Ammersee fahren, da gäbe es etwas zu sehen, das mit den Namen meiner Mutter in unmittelbarer Verbindung stünde. Das sagte ich nicht nein.
Das Marienmünster in Dießen am Ammersee
Heute geht es um zwei Persönlichkeiten, die anders bestattet sind als andere. Im Marienmünster in Dießen am Ammersee (Bayern) sind die Gebeine der seligen Mechtildis (* um 1125 in Dießen am Ammersee; † 31. Mai 1160 ebenda) und des seligen Rathardus (* 815 in Andechs, † um 900, der Tag ist bekannt: 8. August) zu bewundern. Sie werden in einem Glasschrein aufbewahrt. Links liegt Mechtildis, rechts Rathardus.
Besonders gruslig sieht Mechtildis nicht aus, denn Knochen sind keine sichtbar. Sie ist eingekleidet, ihr Gesicht ist bedeckt, auch trägt sie Handschuhe. Bei Rathardus sind dagegen zumindest die Hände frei, was ihm eine etwas makaberere Erscheinung verleiht.
Das Marienmünster wurde neben St. Stephan ab 1720 gebaut. Der Oberteil des Glockenturmes wurde 1827 durch einen Blitzschlag zerstört. Als Ersatz kam ein simpler Aufsatz. erst 1985/86 wurde der ursprünglich Turm rekonstruiert.
Die selige Mechtildis
Etymologie
Der Name bedeutet „die mächtige“ Kämpferin. „mecht“ steht also tatsächlich für „mächtig“, der Rest leitet sich aus dem Altdeutschen „hiltja“ ab, das „Kampf“ bedeutet.
Den Namen gibt es in verschiedenen Schreibweisen. Der Schreibweise „Mechtildis“, die an ihrem Glasschrein steht, soll hier der Vorrang gegebenen werden. Aber es existiert auch die Schreibweise „Mechthildis“ mit dem zweiten „h“ und natürlich die Abkürzung „Mechthild“. Auch „Mathilde“ ist davon abgeleitet. Die Quellenangaben am Ende des Artikels zeigen deutlich, dass der Name auch in Verbindung mit der seligen Mechtildis sehr uneinheitlich verwendet wird; jede Quelle hat eine andere Schreibweise.
Ihr Leben
Mechtildis war die Tochter des Grafen Berthold II. von Andechs. Sie hatte sechs Geschwister bzw. Halbgeschwister, darunter Berthold III. von Andechs († 1188), Otto VI. von Andechs († 1196, Bischof von Brixen und von Bamberg) und Euphemia († 1180, Äbtissin von Kloster Altomünster). Mit fünf Jahren wurde sie in das damalige Kanonissenstift St. Stephan in St. Georgen (Dießen) aufgenommen, das von ihrem Vater sowie Otto von Wolfratshausen gestiftet worden war. (Als „Kanonissin“ wird eine Frau bezeichnet, die in einer geistlichen Gemeinschaft in einem weltlichen Frauenstift lebt. Sie legt dabei kein Ordensgelübde ab.)
Sie soll nie Fleisch gegessen, nie Wein getrunken und auch nie gebadet haben. Auch soll sie nie Arzneien genommen haben. Es wird weiterhin berichtet, dass sie extrem fromm gewesen sei, pünktlich und gehorsam, demütig. Nach dem Tode der Oberin wurde sie, noch ganz jung, gegen ihren Willen zur Oberin ernannt. Sie soll dann noch mehr gebetet und noch bescheidener gelebt und noch öfter gefastet haben.
Mechtildis wurde später Novizenmeisterin des Stiftes. Bischof Konrad von Augsburg war von der Frömmigkeit Mechtildis’ überzeugt und wollte sie in das Kloster Edelstetten bei Ursberg als Oberin holen. Dieses 1126 gegründete Kloster war nach dem Tode der Stifterin Gisela vom Verfall bedroht. Doch Mechtildis weigerte sich zunächst. Durch einen Erlass von Papst Anastasius IV wurde sie jedoch faktisch zum Wechsel gezwungen. Ihr Aufgabe bestand darin, das Kloster zu reformieren, da der Zustand von Konvent und Klosteranlage schlecht war.
Mit ihrem sanften Wesen konnte Mechtildis dort überzeugen, führte aber eine strenge Klausur ein. Sie erlangte schnell den Ruf einer Heiligen. Sie soll eine besondere Gabe der Krankenheilung beherrscht haben. Einem Stummen soll sie die Sprache zurückgegeben haben, ferner soll sie Besessene von Dämonen befreit haben.
Doch bei Reformierung des Klosters war sie glücklos. Sie wollte offenbar auch die Augustinerregel einführen, traf dabei aber auf Widerstände der adeligen Stiftsdamen.
Mit 34 erkrankte sie sehr schwer (an welcher Krankheit, verraten die Quellen nicht) und ging nach Dießen zurück, wo sie kurz darauf verstarb.
Mechtildis’ Exhumierung
Um 1200 wurde ihre Vita verfasst. Der längst aufgekommene Mechtildiskult war der Grund dafür, dass man sie 1468 exhumierte und ihre Gebeine in geschmückter Form in dem erwähnten Glasschrein der Öffentlichkeit zugänglich mache. Diese Form der Exhumierung wird auch als „Erhebung der Gebeine“ bezeichnet.
Die Fotostrecke zeigt den Glasschrein der Gebeine der seligen Mechtildis.
Mechtildisbrunnen
An der Stelle der früheren Sconenpurch bei Dießen (der Burg, in der Mechtildis geboren wurde) befindet sich heute ein Gedenkstein. Nicht weit davon entfernt wurde eine Burgkapelle errichtet. Ein Stück unterhalb der früheren Burg entspringt im sogenannten Mechtildisbrunnen eine Quelle. Diese soll heilende Wirkung haben, besonders bei Augenleiden.
Mechtildis’ Haare
Die Selige soll ihr ganzes Leben schönes, langes und blondes Haar gehabt haben. Ihre Haare wurden noch bis ins 19. Jahrhundert in Dießen aufbewahrt. Was dann mit den Haaren geschehen ist, darüber schweigen sich die Quellen aus.
Mechtildisstein
Im Vorraum des Marienmünsters befindet sich der sogenannte Mechtildisstein. Auf diesem soll sich Mechildis ausgeruht haben. Das Berühren des Steins soll nach dem Volksglauben bei Kopfschmerzen helfen.
Patronin
Heute gilt Mechtildis als Patronin gegen Gewitter und gegen Augenleiden.
Der selige Rathardus
Der Name bedeutet „der starke Ratgeber“. Rathardus war ein Priester und soll in Dießen ein Priesterhaus sowie die Kirche St. Georgen gestiftet haben Dort soll er mit anderen Geistlichen nach der Regel der Augustiner-Chorherren gelebt haben. Mitte des 10. Jahrhunderts wurde Rathardus‘ Kloster an St. Gorgen von den Ungarn verwüstet. 1013 wurden Rathardus‘ Gebeine auf angeblich wundersame Weise aufgefunden. Das Kloster an St. Gorgen wurde danach neu gegründet und um 1123 an die Stelle des heutigen Marienmünsters verlegt.
1980 wurde bei Restaurierungsarbeiten an der Kirche St. Georgen ein Teil der ursprünglichen Kirche von 815 wiederentdeckt. Dieser Teil wurde nun als sogenannte Ratharduszelle zugänglich gemacht.
Die Fotostrecke zeigt den Glasschrein der Gebeine des seligen Rathardus.
Reliquienkult bei der Kirche
Der Körperreliquienkult bei der katholischen und orthodoxen Kirche hat seinen Ursprung in der Bibel. Dort steht, dass „Objekte“, zu denen es einen Bezug zu verehrungswürdigen Personen gibt, eine wundersame Wirkung hätten. Vor allem geht es dabei um spontane Heilungen und andere Wunder. Bei den Objekten kann es sich um Körperreliquien wie Gebeine oder Blut handeln aber auch um Gegenstände wie Kleidung.
Im Alten Testament wird berichtet, ein Toter sei in das Grab des Propheten Elischa geworfen worden. Sobald der Tote die Gebeine Elischas berührt hätte, wäre er wieder lebendig geworden und hätte sich aufgerichtet. Auch im Neuen Testament gibt es vergleichbare Erzählungen.
Thomas von Aquin (* 1225, † 1274) hat dazu eine These. Nach seiner Meinung seien Reliquien eine Art Vergrößerungsglas, das die glorreichen Strahlen von Gottes Gnade bündelte. Dabei soll nicht der Knochen oder ein Kleidungsstück selbst das Wunder initiieren, sondern Gott soll durch die Reliquie handeln.
Martin Luther lehnte diesen Kult ab und bezeichnete Reliquien als „alles tot‘ Ding“. Entsprechend gibt es in der evangelischen Kirche keinen Reliquienkult und auch übrigens keine Heiligen. Der anfangs erwähnte Seelsorger Hartmut Th. sagte mir zu dem Thema: „Bei uns in der evangelischen Kirche sind alle heilig.“
Gibt es Wunderheilungen?
Erstaunlich ist, dass sich der Reliquienkult und der Glaube an Wunderheilungen bis heute gehalten hat, wenngleich er zumindest in Zentraleuropa deutlich verblasst ist. Ausprobieren kann nicht schaden, denken viele und kosten einmal vom Wasser einer Heilquelle. Speziell die immer wieder in den Medien kolportierten Wunderheilungen werden aber in der Wissenschaft freilich nicht ernst genommen. Spontane Remissionen sind zwar bekannt und noch nicht hinlänglich erforscht. Lassen spontane Remissionen eine Lücke für Gott? Ich fürchte, nein. Von Wunderheilungen in der Gestalt, dass ein Beinamputierter auf einmal – schwupp – sein Bein wieder hat oder dieses zumindest nachwächst, ist nichts bekannt. Für einen allmächtigen Gott wäre es aber ein Leichtes, ein Bein wieder herzuzaubern, hat er doch Adam einfach so aus Lehm erschaffen. Das bedeutet: Wenn keine Gliedmaßen zurückkommen, dann sind spontane Remissionen wie ein weggeschrumpfter Tumor nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit nicht göttlich initiiert. Heißt: Wenn Gott nur das eine macht, etwas anderes, Ähnliches aber nicht, dann ist das weder konsequent noch stringent.
Von Jesus Christus existiert eine unerschöpfliche Anzahl an Abbildungen. Wir haben also eine Vorstellung von dem Erlöser. Die meisten Bilder stellen jedoch einen hellhäutigen Mann westeuropäischen Typus dar, was schon reichlich seltsam ist, soll er doch in Jerusalem oder Bethlehem geboren sein. Sollte Jesus Christus gelebt haben, dürfte er eher dunkle Hautfarbe gehabt haben.
Hier soll es jedoch um Gott gehen. Von ihm existieren weit weniger Darstellungen. Falls es Gott wirklich gibt, was ich für extrem unwahrscheinlich halte, weiß das ja vielleicht KI. Ich habe sie mal gefragt.
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